IKUWO
Pressemitteilung

„Wen rufst Du, wenn Polizei Täter ist? #polizeiproblem“

Ein Transparent mit dieser Aufschrift wurde am 08. Juli 2020 am Haus des Internationales Kultur- und Wohnprojekt e.V. (IKUWO) in Greifswald angebracht.

2003: Zwei Polizeibeamte aus Stralsund fahren den Obdachlosen Wolfgang H. bei Minustemperaturen aus der Stadt heraus und setzen ihn einige Kilometer entfernt aus, Wolfgang H. erfriert. Die Täter werden zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Obwohl einer der Beamten sagte, dass es ihm leid getan hätte, wäre H. ein ‚normaler Bürger‘ gewesen, bleibt die der Tat zugrunde liegende Einstellung der Beamten im Urteilsspruch unerwähnt. [1]

2005: Oury Jalloh, ein in Deutschland lebender Mann aus Sierra-Leone, verbrennt in einer Gewahrsamszelle des Polizeireviers Dessau, in der er sich unter falschem Verdacht befindet. Obwohl er an allen Gliedmaßen auf einer feuerfesten Matratze fixiert ist, soll er sich selbst angezündet haben und dabei lebendig verbrannt sein. Bis heute gibt es keine Erklärung dafür, warum der diensthabende Polizist den Feueralarm ausschaltet, warum Jalloh vor seinem Tod mehrere Brüche erleidet und bereits bewusstlos oder gar tot ist, bevor das Feuer ausbricht. Die Ermittlungen werden 2017 eingestellt, noch immer Untersuchungsausschüsse verhindert und in dieser Woche erst Sonderermittler vom Magdeburger Justizministerium blockiert. [2, 3]

2014: Im Rahmen der Gegenproteste zur 8.Mai-Demonstration der NPD in Demmin schlagen Polizeibeamte einen 24-Jährigen Franzosen bewusstlos, er muss anschließend ins künstliche Koma versetzt werden. Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Caffier kommentiert dies damit, was ein Franzose auf einer Demonstration in Vorpommern zu suchen habe. Der Geschädigte wird 2015 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er bei der Festnahme einen Beamten gebissen haben soll. [4, 5, 6]

2015: Der Bundespolizist Torsten S. aus Hannover misshandelt einen Geflüchteten in Gewahrsam, prahlt vor seinen Kollegen per WhatsApp damit, das Opfer gezwungen zu haben gammliges Schweinefleisch vom Boden zu essen. Das Verfahren wird 2016 eingestellt. Später fällt er durch den Besitz von über 900.000 kinder- und jugendpornografischen Materialdateien auf. Er wird zu 10 Monaten auf Bewährung verurteilt. [7, 8]

2017 & 2019: Bei Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit dem Nordkreuz-Komplex werden bei dem SEK-Beamten Marko G. aus Banzkow (M-V) zehntausende Schuss Munition und mehr als zwei Dutzend Waffen sicher gestellt. Im Dezember 2019 wird er allein wegen Verstößen gegen das Waffengesetz zur Bewährung verurteilt, die politische Dimension bleibt unerwähnt. [9]

2018: Ibrahim Ö. aus Neustrelitz, ein seit Jahrzehnten in Deutschland lebender Kurde, wird von türkischen Behörden angeklagt, weil er auf Facebook Erdogan-kritische Beiträge geteilt haben soll. Anstatt die fehlende Rechtsstaatlichkeit der Anklage des türkischen Regimes zu kritisieren, macht die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg mit und lässt den Mann vom Staatsschutz wegen des „Verdachts der Beleidigung zum Nachteil des türkischen Präsidenten“ vernehmen. [10]

2019: Ein AfD-naher Polizeibeamter des Greifswalder Polizeireviers fragt ohne dienstlichen Grund personenbezogene Daten von Andersdenkenden ab und leitet diese an AfD-Mitglieder weiter. Die Betroffenen werden von diversen Personen belästigt. Das strafrechtliche Verfahren wird eingestellt. Trotz eines internen Disziplinarverfahrens ist der Beamte weiterhin im Dienst. [11, 12]

2019: Aus dem Landesdatenschutzbericht MV 2018 gehen mehrere Fälle sexueller Belästigung minderjähriger Mädchen durch Polizeibeamte hervor. Beispielsweise erstattet eine 15-jährige Jugendliche in Schwerin eine Strafanzeige aufgrund der ungewollten Veröffentlichung von Bildern im Internet, die sie beim Sex zeigen. Im Nachgang verschafft sich der Polizeibeamte, der sie auf dem Revier in Empfang genommen hat, Zugang zu ihrer Handynummer und lädt sie zu einem „Fotoshooting“ ein. In einem weiteren Fall erschleicht sich ein Ermittler nach einer Vernehmung die Handynummer eines 13-jährigen möglicherweise von Kindesmissbrauch betroffenen Mädchens, mit dem Vorwand er würde sie für etwaige Nachfragen benötigen. Tatsächlich nutzt er die Nummer, um das Mädchen per WhatsApp zu erreichen und ihr dort ‚sexuelle Avancen‘ zu machen. Es wird ein Bußgeld verhängt, was jedoch aus formalen Gründen nicht gezahlt werden muss. Beide Polizisten bleiben ohne Konsequenzen im Dienst. [13, 14]

2020: Eine 22-Jährige fährt nachts in Rostock mit dem Rad und wird von drei Männern in einem Auto verfolgt und bedrängt. Erst dann erfährt sie, dass es Polizeibeamte in Zivil sind. Sie fordern die Herausgabe ihres Ausweises, weil sie während der Verfolgung mit dem Handy telefoniert hat. Der Vater der Betroffenen, selbst Polizist, beschwert sich bei den Vorgesetzten über das Vorgehen angesichts einer Ordnungswidrigkeit, erhält aber auf mehrere Anfragen keine Antwort. [15]

Diese ausgewählten Fälle stellen nur einen Bruchteil aller durch Polizist*innen im Amt verübten personenbezogenen Straftaten dar. Sie stehen exemplarisch für viele weitere Opfer, beispielsweise 269 Tote durch Schusswaffengebrauch seit 1990 [16] und 167 Todesfälle von People of Colour in Gewahrsam seit 1990 [17] deutschlandweit. Diese erfassten Todesfälle sind nur die Spitze des Berges von Delikten und bei weitem keine Einzelfälle.

Bisher müssen Betroffene polizeilicher Gewalt sich hilfesuchend an die Polizei selbst wenden, aus deren Reihen die Übergriffe erfolgten. Corpsgeist als falsche Loyalität Täter*innen gegenüber erschwert und verhindert oftmals die Verfolgung und Aufklärung [18]. So münden weniger als 2% der Fälle von Polizeigewalt in einem Gerichtsverfahren und weniger als 1% enden mit einer Verurteilung [19, 20].

Die bestehenden Probleme innerhalb der Polizei kann die Polizei selbst nicht lösen. Wie naiv ist die Annahme, dass zum Beispiel Kolleg*innen sich gegenseitig anzeigen oder dass rassistische Polizist*innen gegen rassistische Übergriffe vorgehen? Der Rassismus in der Polizei ist spätestens seit Nordkreuz kein Geheimnis und auch nicht der Wahn eines Einzelnen.

Das blind entgegengebrachte Vertrauen von Bürger*innen, die sich gegen unabhängige Beschwerde- und Kontrollstellen aussprechen, konserviert diese Missstände, schafft einen rechtsfreien Raum für die Polizei und hilft auch nicht den oft genannten „guten Polizist*innen“.

Für „racial profiling“ muss ein bestimmtes Profil erfüllt werden. Personen, die weiß sind und Deutsch ohne Akzent sprechen, werden diese Erfahrung nicht machen können – was nichts über das nicht-Vorhandensein dieser Praxis aussagt. Mit einer Studie lässt sich das Vorgehen der Polizei über individuelle Erfahrungsberichte hinaus erheben.

Das, was gefordert wird, ist banal und naheliegend. Ein demokratischer Rechtsstaat, der seine Exekutive nicht kontrollieren kann oder will, hat diese Attribute nicht verdient. Eine linke radikale Kritik an der Polizei und am Staat ist das nicht.

Quellen:

[1] http://www.links-lang.de/0307/02.php

[2] https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/dessau/dessau-rosslau/interview-fuenfzehn-jahre-ungeklaert-der-tod-des-oury-jalloh-in-dessau-recherche-100.html

[3] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/fall-oury-jalloh-gescheiterte-aufklaerung-behinderung-justizministerium-polizeirevier-dessau

[4] https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2014/05/09/polizeigewalt-ueberschattet-protest-gegen-npd-fackelmarsch-in-demmin_16137

[5] https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/gewalt-in-demmin-hat-ein-nachspiel-156965005.html

[6] https://www.nordkurier.de/demmin/geldstrafe-fuer-demminer-polizisten-beisser-2816447707.html

[7] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/hannover-bundespolizist-wird-nicht-wegen-folter-angeklagt-a-1085550-amp.html

[8] https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Bundespolizist-aus-Hannover-gesteht-Besitz-von-Kinderpornos

[9] https://taz.de/Rechte-Prepper-Gruppe-Nordkreuz/!5674282/

[10] https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/erdogan-laesst-tuerken-aus-neustrelitz-vernehmen-2832986008.html

[11] https://www.nordkurier.de/anklam/staatsanwaltschaft-legt-datenklau-fall-zu-den-akten-0738346802.html

[12] https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/mindestens-acht-weitere-unerlaubte-datenabfragen-der-polizei-0438613203.html

[13] https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/schwere-sex-vorwuerfe-gegen-polizisten-in-mv-3135664105.html

[14]https://www.spiegel.de/panorama/justiz/mecklenburg-polizist-kontaktierte-13-jaehrige-kein-bussgeld-a-1271205.html

[15] https://www.ostsee-zeitung.de/Mecklenburg/Rostock/Rostock-Von-Zivilpolizisten-bedraengt-junge-Frau-steht-unter-Schock

[16]  https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-1957584

[17] https://deathincustody.noblogs.org/

[18] https://www.jetzt.de/politik/rassismus-in-der-polizei-ein-junger-polizist-berichtet

[19] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-07/polizeigewalt-studie-ruhr-universitaet-bochum-kriminologen-verfahren

[20] https://kviapol.rub.de/